LAG Mecklenburg-Vorpommern: Bahnfahren bei attestierter Arbeitsunfähigkeit

In seinem Urteil vom 13.07.2023 – 5 Sa 1/23 hatte sich das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit dem Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auseinanderzusetzen. Weil die zugespitzte Frage „Was darf der Arbeitnehmer machen, wenn er krankgeschrieben ist?“ viele Arbeitnehmer und auch einige Arbeitgeber beschäftigt, sei die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts kurz besprochen.

Dem Rechtsstreit lag zugrunde, dass der Arbeitnehmer (angestellter Chefarzt) nach einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung während der Kündigungsfrist am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit in ca. 10 Stunden ca. 1.000 Kilometer mit der Bahn von seinem Arbeitsort (Mecklenburg-Vorpommern) zu seinem Wohnort (Süddeutschland) fuhr. Seine Hausärztin am Wohnort hatte dem Arbeitnehmer erst am Folgetag bescheinigt, dass er arbeitsunfähig wegen starker Kopfschmerzen, Hypertonie sowie weiterer Diagnosen war. Der Arbeitgeber zweifelte an der Arbeitsunfähigkeit seines Arbeitnehmers, weil dieser sonst nicht die Strapazen der langen Bahnfahrt hätte ertragen können und kaum nachvollziehbar sei, dass die Hausärztin das Ende der Arbeitsunfähigkeit ca. 14 Tage später absehen konnte – genau zu dem Zeitpunkt, als der bereits gewährte Urlaub des Arbeitnehmers begann. Den Urlaub trat der Arbeitnehmer pünktlich an – ebenso wie seine neue Arbeitsstelle bei einem anderen Arbeitgeber wenige Tage später.

Der Arbeitgeber verweigerte dem Arbeitnehmer die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, welche der Arbeitnehmer letztlich gerichtlich durchsetzen musste. Das Arbeitsgericht hatte in erster Instanz dem klagenden Arbeitnehmer Recht gegeben – ebenso wie das Landesarbeitsgericht in der Berufungsinstanz.
Das Landesarbeitsgericht führte in seiner Urteilsbegründung unter Anderem aus, dass nach dem Maßstab des Bundesarbeitsgerichts der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern könne, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweis mehr dazu kommt. Beispielsweise sei der Beweiswert in der Regel erschüttert, wenn zeitgleich mit einer Kündigung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht wird, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts sei der Beweiswert jedoch nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist abdecke.

Im vorliegenden Fall sah das Landesarbeitsgericht daher den Beweiswert Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert. Auch eine zehnstündige Bahnfahrt erschüttere den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht, weil nach Auffassung des Gerichts die Belastung einer zehnstündigen Bahnfahrt nicht annähernd der Belastung der Tätigkeit als Chefarzt gleiche. Dem attestierten Krankheitsbild des Arbeitnehmers widerspreche die Bahnreise nicht. Im Sinne einer schnellen Genesung erscheint es dem Gericht auch nachvollziehbar, dass der Arbeitnehmer seinen Hausarzt am Wohnort aufsuchen wollte. Das Landesarbeitsgericht verurteilte den Arbeitgeber schließlich zur Zahlung des Entgelts im Krankheitsfall.

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