Oberverwaltungsgericht für das Land Sachsen-Anhalt: Fiktiver Erbenbesitz und polizeirechtliche Zustandsverantwortlichkeit
Das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (im Folgenden: OVG Magdeburg) hat mit Beschluss vom 18.09.2023 (2 M 86/23) entschieden, dass der nicht tatsächlich ausgeübte (fiktive) Erbenbesitz nach § 857 BGB („Der Besitz geht auf den Erben über“) keine Zustandsverantwortlichkeit im Sinne des § 8 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) begründet.
Gegenstand des auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichteten Verfahrens war ein Bescheid, mit dem der Landkreis L. der A. unter Anordnung der sofortigen Vollziehung u. a. aufgab, ein ehemaliges Wohngebäude bis auf eine bestimmte Höhe zurückzubauen, Nebengebäude auf dem Grundstück vollständig abzubrechen, die bei den angeordneten Abbrüchen anfallenden Abfälle nach Abfallarten getrennt zu erfassen und durch einen zertifizierten Entsorgungsfachbetrieb ordnungsgemäß zu entsorgen sowie entsprechende Entsorgungsnachweise vorzulegen. A. ist die Erbin des verstorbenen M., zu dessen Gunsten eine Auflassungsvormerkung eingetragen war und auf den am 01.01.1995 entsprechend den Regelungen eines Grundstückskaufvertrags der Besitz am Grundstück übergegangen war.
In dem Verfahren kam es u. a. maßgeblich darauf an, ob die A. Inhaberin der tatsächlichen Gewalt über das Grundstück im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 SOG LSA war. Unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung führte das OVG Magdeburg aus:
Die Verantwortlichkeit des Eigentümers oder des Inhabers der tatsächlichen Gewalt für den polizeilichen Zustand von Sachen sei Ausfluss der tatsächlichen und rechtlichen Sachherrschaft, welche die Nutzung der Sache mit den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Vorteilen ermöglicht. Tatsächliche Gewalt an einer Sache setze eine gewisse Dauer der Beziehung, räumliche Zugänglichkeit und die Möglichkeit voraus, zu jeder Zeit und beliebig auf die Sache einzuwirken; maßgeblich seien die Verkehrsauffassung und eine zusammenfassende Würdigung aller Umstände. Daher komme es nicht (allein) auf die Rechts-beziehungen an, sondern maßgeblich auf die tatsächliche Beziehung einer Person zu einer Sache.
Der nicht tatsächlich ausgeübte, das heißt fiktive Erbenbesitz nach § 857 BGB begründe mangels tat-sächlicher Beziehung zu einer Sache keinen Gewahrsam im Sinne einer tatsächlichen, nach außen er-kennbaren Sachherrschaft. Die Wirkungen der abgeleiteten Besitzposition nach § 857 BGB entsprächen zwar grundsätzlich denen, die der Besitz für den Erblasser hatte. Abweichungen ergäben sich jedoch daraus, dass der Erbe die tatsächliche Sachherrschaft gerade nicht innehabe. Der Erbenbesitz sei ein Besitz ohne Sachherrschaft. Die tatsächliche Sachherrschaft könne nicht gesetzlich für jemanden bestimmt werden, dem sie fehle. Ein mit Sachherrschaft verbundener Besitz des Erben entstehe erst durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt. Habe der Erbe diese tatsächliche Gewalt über das Grundstück nicht ergriffen, begründe allein der Erbenbesitz nach § 857 BG keine Zustandsverantwortlichkeit.
Soweit kreislaufwirtschaftliche Anordnungen Gegenstand des Verfahrens waren – die Entscheidung des OVG Magdeburg enthält hierzu mangels Entscheidungserheblichkeit keine Ausführungen – richtet sich die Verantwortlichkeit der als Überlassungspflichtige i. S. d. § 17 Abs. 1 Satz 1 KrWG bzw. Verwertungs-pflichtige i. S. d. § 7 Abs. 2 Satz 2 KrWG in Anspruch genommen A. nach ihrem Besitz an den Abfall bildenden Gegenständen. Nach § 3 Abs. 9 KrWG ist Besitzer von Abfällen im Sinne des Kreislaufwirtschaftsgesetzes jede natürliche oder juristische Person, die die tatsächliche Sachherrschaft über Abfälle hat. Da die letztgenannte Norm an die tatsächliche Sachherrschaft anknüpft, reicht der nicht tatsächlich ausgeübte – fiktive – Erbenbesitz ebenfalls nicht aus, um gegenüber dem Erben eine den Besitz von Abfällen voraussetzende kreislaufwirtschaftsrechtliche Anordnung zu erlassen.