OVG Münster: Unzulässigkeit einer gleichzeitigen kalkulatorischen Abschreibung des Anlagevermögens

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit Urteil vom 17.05.2022 (Az.: 9 A 1019/20) u. a. unter Aufgabe seiner langjährigen Rechtsprechung entschieden, dass der gleichzeitige Ansatz einer kalkulatorischen Abschreibung des Anlagevermögens auf der Basis seines Wiederbeschaffungszeitwertes sowie einer kalkulatorischen Nominalverzinsung auf der Basis seines Anschaffungsrestwertes in einer Abwassergebührenkalkulation unzulässig sei.

Das Oberverwaltungsgericht Münster vertritt auf der Grundlage eines von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens die Auffassung, dass die streitgegenständliche kalkulatorische Abschreibung und Nominalverzinsung zwar betriebswirtschaftlichen Grundsätzen entspreche. Der gleichzeitige Ansatz einer kalkulatorischen Abschreibung des vom Aufgabenträger eingesetzten Anlagevermögens auf der Basis seines Wiederbeschaffungszeitwertes sowie einer kalkulatorischen Nominalverzinsung auf der Basis seines Anschaffungsrestwertes sei aber durch vorrangige gesetzliche Vorgaben zur Gebührenkalkulation ausgeschlossen.

Diese vorrangigen gesetzlichen Vorgaben sieht das Oberverwaltungsgericht Münster in zwei den haushaltsrechtlichen Regelungen in § 72 Abs. 1 Satz 1 SächsGemO (=§ 98 Abs. 1 Satz 1 KVG LSA) und § 73 Abs. 2 Nr. 1 SächsGemO (= § 99 Abs. 2 Nr. 1 KVG LSA) entsprechenden inhaltsgleichen haushaltsrechtlichen Bestimmungen in der Gemeindeordnung NRW (§ 75 Abs. 1 Satz 1, § 77 Abs. 2 Nr. 1). Aus diesen beiden Bestimmungen sei nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Münster die kalkulatorische Zielvorgabe abzuleiten, durch die zu vereinnahmenden Benutzungsgebühren nicht mehr als die dauerhafte Betriebsfähigkeit der öffentlichen Einrichtung sicherzustellen. Nach Auffassung des Gerichts seien deshalb bei gleichzeitigem Ansatz von kalkulatorischen Abschreibungen und Zinsen in der Gebührenkalkulation nur die Betriebserhaltungskonzeptionen der realen Kapitalerhaltung oder der reproduktiven Nettosubstanzerhaltung zulässig. Zwischen diesen beiden Betriebserhaltungskonzeptionen bestehe für den Aufgabenträger ein Wahlrecht.

Die von dem Aufgabenträger in dem vom Oberverwaltungsgericht Münster entschiedenen Fall gewählten Abschreibungs- und Verzinsungsmethoden würden zu einem doppelten Inflationsausgleich führen, der mit den vorgenannten haushaltsrechtlichen Regelungen nicht vereinbar sei. Zur Erfüllung der Aufgabe der Abwasserbeseitigung mit einer dauerhaft betriebsfähigen Abwasserbeseitigungseinrichtung bedürfe es aber nur eines einfachen Inflationsausgleichs. Bei dem weiteren Inflationsausgleich handle es sich deshalb um in der Gebührenkalkulation nicht ansatzfähige Kosten. Die Einstellung solcher nicht ansatzfähigen Kosten würden zu einem Verstoß gegen das - auch in Nordrhein-Westfalen geltende - Kostenüberschreitungsverbote (für Sachsen: § 10 Abs. 1 Satz 1 SächsKAG, für Sachsen-Anhalt: § 5 Abs. 1 Satz 2 KAG-LSA [Sollvorschrift] führen.

Sowohl in Sachsen als auch in Sachsen-Anhalt stehen die Regelungen der Kommunalabgabengesetze beider Länder (§ 11 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, §§ 12, 13 SächsKAG; § 5 Abs. 2 und 2a KAG-LSA) einem gleichzeitigen Ansatz einer kalkulatorischen Abschreibung des Anlagevermögens auf der Basis seines Wiederbeschaffungszeitwertes und einer kalkulatorischen Nominalverzinsung auf der Basis seines Anschaffungsrestwertes nicht entgegen.

Die Regelungen über die kalkulatorische Verzinsung sind in Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt im Wesentlichen inhaltsgleich. Für Nordrhein-Westfalen bestimmt § 6 Abs. 2 Satz 4 KAG NRW, dass bei der angemessenen Verzinsung des aufgewandten Kapitals der aus Beiträgen und Zuschüssen Dritter aufgebrachte Eigenkapitalanteil außer Betracht bleibt. Eine vergleichbare Regelung enthalten § 12 Abs. 1 Satz 1 SächsKAG für die Verzinsung nach der Restwertmethode und § 5 Abs. 2a Satz 4 KAG LSA.

Anders verhält es sich bei den Regelungen über die kalkulatorische Abschreibung.

§ 6 Abs. 2 Satz 4 KAG NRW bestimmt, dass Abschreibungen von den Anschaffungs- oder Herstellungs-werten nach der mutmaßlichen Nutzungsdauer oder Leistungsmenge gleichmäßig zu bemessen sind. Einen Abzug von Beiträgen und Zuwendungen Dritter sieht das Kommunalabgabengesetz NRW bei den Abschreibungen– anders als bei der Verzinsung des aufgewandten Kapitals – nicht vor.

In Sachsen bestimmt § 13 Abs. 1 Satz 2 SächsKAG, dass die Anlagewerte um Zuweisungen und Zuschüsse Dritter zu kürzen sind, soweit diese nicht zur Bildung von Eigenkapital gewährt worden sind (Kapital-zuschüsse). Ergänzt wird diese Regelung durch § 13 Abs. 2 SächsKAG, wonach Beiträge nach §§ 17 bis 25 SächsKAG Kapitalzuschüsse sind und somit kein Abzugskapital darstellen.

In Sachsen-Anhalt bestimmt § 5 Abs. 2a Satz 2 KAG-LSA, das Berechnungsgrundlage der Abschreibungen die Anschaffungs- und Herstellungskosten oder der Wiederbeschaffungszeitwert jeweils vermindert um Beiträge oder ähnliche Entgelte sowie Zuwendungen Dritter ist.

Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster dürfte wohl so zu verstehen sein, dass das Gericht eine dauerhafte Betriebsfähigkeit einer öffentlichen Einrichtung nur dann für gegeben hält, wenn jedenfalls Abschreibungen entweder auf der Basis der Anschaffungskosten des gesamten Anlagevermögens (Betriebskonzeption der realen Kapitalerhaltung) oder auf Basis der Wiederbeschaffungszeitwerte des gesamten Anlagevermögens (Betriebskonzeption der reproduktiven Nettosubstanzerhaltung) ohne Berücksichtigung von Abzugskapital in die Gebührenkalkulation einfließen (so auch SGSA, KNSA 194/2022 v. 07.07.2022, S. 38-41).

Dies bedeutet für Sachsen-Anhalt, dass im Hinblick auf die zwingend vorzunehmenden Abzugskapitale bei der kalkulatorischen Abschreibung eine Übertragung der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts auf die Rechtslage in Sachsen-Anhalt zweifelhaft erscheint.

Für Sachsen bedeutet dieses Verständnis der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster, dass jedenfalls dann, wenn die Anlagewerte nicht um Zuwendungen Dritter im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 2 SächsKAG zu kürzen sind, eine Übertragung der Rechtsprechung auf die Rechtslage in Sachsen in Betracht kommt. Die vom Oberverwaltungsgericht Münster zum Ausschluss eines doppelten Inflations-ausgleichs durch kalkulatorische Abschreibung und Verzinsung herangezogenen haushaltsrechtlichen Regelungen in der Gemeindeordnung NRW sind inhaltsgleich mit § 72 Abs. 1 Satz 1 und § 73 Abs. 2 Nr. 1 SächsGemO. Entsprechende Entscheidungen der sächsischen Verwaltungsgerichte und des Sächsischen Oberverwaltungsgericht sind zu der vom Oberverwaltungsgericht Münster aufgeworfenen Problematik allerdings noch nicht ergangen.

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